Wahre Nähe
Menschliche Beziehungen unterliegen leicht der Gefahr, besitzergreifende Formen anzunehmen. Unser Herz sehnt sich so sehr nach Liebe, dass wir immer versucht sind, uns an den Menschen, der uns Liebe, Zuneigung, Sympathie, Freundschaft oder Fürsorge schenkt, zu klammern.
Kaum haben wir einen Hauch von Liebe entdeckt oder gespürt, verlangen wir nach mehr.
Daran mag es auch liegen, dass Liebende so häufig miteinander streiten. Liebesstreit sind kleine Konflikte zwischen Menschen, die mehr voneinander wollen, als sie zu geben vermögen oder zu geben gewillt sind.
Es fällt der Liebe schwer, nicht in Besitz zu nehmen, denn unser Herz sehnt sich nach vollkommener Liebe, die aber kein Mensch geben kann. Nur Gott kann vollkommene Liebe schenken.
Deshalb gehört zur Kunst des Liebens auch die Kunst, einander Raum zu gewähren.
Wenn wir in den Raum des anderen eindringen und ihm nicht erlauben, ein freier Mensch zu sein, stiften wir in unseren Beziehungen viel Kummer und Enttäuschung.
Gewähren wir jedoch einander Raum, in dem wir uns bewegen und unsere Gaben austauschen, kann es zu wahrer Nähe kommen.
Henry J.M. Nouwen aus «Leben hier und jetzt»