Offene Ehe – das erleben wir als Paarberater in der Praxis
Vermehrt erlebe ich Diskussionen über den Vorteil der offenen Ehe gegenüber der Treuebeziehung in der Ehe. Wenn Ehepartner und -partnerinnen eh heimlich fremdgehen, ist eine offene Beziehung mit klaren Abmachungen nicht ehrlicher? Wenn man sich als Paar in- und auswendig kennt – auch erotisch – bringt ein Ausbruch aus der Beziehungskiste nicht neues Leben ins sexuelle Eherepertoire, ja in die ganze eheliche Beziehungsdynamik überhaupt? Können wir uns emotional nicht treu sein, auch wenn wir in der offenen Ehe extern erotisch wellnessen?
Offene Ehe – offene Fragen
Ich finde es gut, wenn wir solche Fragen zulassen. Das Verbieten von Fragen gehört ins Mittelalter. Wir müssen uns aber auch einige Gegenfragen stellen lassen. Etwa diese:
Bei jedem sexuellen Zusammensein wird jede Menge des Bindungshormons Oxytocin ausgeschüttet. Oft entsteht, auch dank dieses flauschigen Kuschelhormons bei einem der beiden flüchtigen Sexpartner, Verliebtheit, ja Liebe (brain-effect.com/ Das Kuschelhormon und seine Wirkung). Diese dürfte es jedoch laut Abmachung der offenen Ehe nicht geben. Aber sie gibt es, wie wir aus der Praxis der langjährigen Paarberatung wissen.
Und dann sind da die Grossmutter und die Teenagerkinder: Das Paar mag sich zu einer offenen Ehe entscheiden, sehen das die eigenen Kinder, Schwiegereltern und der Freundeskreis auch so? Soll ich die beiden, die das Konzept einer offenen Ehe leben, als Gäste noch bekochen? Was ist, wenn sie meinen Mann oder er meine Frau in meinem eigenen Revier anmacht?
Regeln in einer offenen Ehe
Diese Fragen sind nicht hypothetischer Natur, sondern kommen aus der Beratungspraxis und können auf den entsprechenden Foren studiert werden: Wie sieht das Aushandeln von Regeln einer offenen Beziehung aus? Man kann sich dazu verschiedenen Versionen als Anregung vom Netz herunterladen. Wie aber geschieht das Handhaben von Regelbruch, wenn z. B. jemand von uns beiden entgegen der Abmachung eben doch im gemeinsamen Freundeskreis «wildert»?
Funktioniert es?
Wir wissen es aus unserer Praxis und aus der Literatur, in der Regel funktionieren offene Ehen auf die Länge eher nicht. Oder wenn sie funktionieren, werden sie nicht als ganzheitliche Liebesehe gelebt: «Es kann nüchtern festgestellt werden, dass dauerhafte sexuelle Untreue in einer ganzheitlich gelebten Liebesbeziehung nicht über längere Zeit hingenommen wird» (Jürg Willi, Psychologie der Liebe, S. 92). Von den vielen Betroffenen kommt jemand bestimmt unter die Räder.
Aufbruch statt Ausbruch
Wenn aber die Beziehungskiste nicht mehr funktioniert, wo man einander einsperrt oder sich vor Langeweile tot gähnt, ist Aufbruch statt Ausbruch angesagt. Hinter dem Liebäugeln nach der offenen Ehe steht die legitime Sehnsucht nach Erneuerung, nach Weite, frischen Wind in die Beziehung und neue Kreativität in der Sexualität. Möglicherweise braucht es dazu auch Anstösse von aussen.
Vielleicht braucht es zuerst seelsorgerliche Begleitung, um alte Verletzungen und unter den Teppich gekehrte Schuldanteile zu «entsorgen». Ein Zusammenleben ohne Schuldzuweisung bewirkt schon eine erste Klimaverbesserung. Neue Liebe gedeiht auf dem Boden der Versöhnung. Es gibt auch viele hilfreiche (Seminar)Angebote, wie die Ehe erhalten und neu gestaltet werden kann.
«Marriage enrichment» heisst das Schlüsselwort. Auf unserer Alphütte, die wir hoch über einem Bergtal der Bündner Alpen gemietet haben, bieten wir solche Erneuerungstage für Ehepaare, insbesondere auch für Paar, die in Führungsverantwortung stehen, an.
Freiheit und Verbindlichkeit
Ein Schlüsselthema ist immer wieder, wie wir uns als Partner und Partnerin in die Freiheit entlassen können, indem jede und jeder zugleich die Verantwortung für eine lebendige Beziehung übernimmt.
Seit meine Frau und ich unsere inneren Buchhaltungen darüber, was wir füreinander tun oder unterlassen, aufgegeben haben, ist viel mehr frische Luft in unsere Beziehung gekommen. Wir erfüllen nicht mehr gegenseitige Erwartung. Ehe ist nicht die Erfüllung von Plicht und Schuldigkeit sondern das gute Gefühl, Freiheit zu leben bei der gleichzeitigen innere Motivation, Liebende zu werden.
Fazit
Das Konzept der offenen Ehe suggeriert eine Freiheit, die für einige der Betroffenen und ihr Umfeld sehr schwierig zu leben ist. Die Ehe, die auf dem Prinzip der Treue beruht, braucht jedoch permanente Erneuerung und Wachstumsanstösse, die nur auf dem gemeinsamen Boden der Freiheit gedeihen können.